Wo einst Leben war von Lena Wanke | Rezension

Mit „Wo einst Leben war“ von Lena Wanke erwartet euch eine Dystopie, die anderen Dystopien in vielerlei Hinsicht ähnelt, die aber dennoch absolut aus der Masse heraussticht. Diese Geschichte ist wahrhaftig düster, hoffnungslos und erbarmungslos. Worum es geht: Den Menschen ist der eigene Planet fremd geworden. Sie leben in Hochhäusern im Land Kaimar D., das nach diversen Naturkatastrophen und Kriegen von Götz Kaimar regiert wird. Die Menschen sollen ein sorgloses Leben führen, zahlen dafür jedoch mit dem Verlust jeglicher Selbstbestimmung und Individualität. Ein hochmodernes Gefängnis. Von der alten Welt sind nur noch Trümmer übrig, die heiße Sonne hat die Landschaft versengt und alles Lebendige getötet. Es gibt keine Bäume, keine Tiere, kaum Wasser. Durch diese Wüstengegend schleppen sich die Geschwister Jona, Tobias, Luki und Emma sowie Taube, ein kleines Mädchen, das sie unterwegs bei sich aufgenommen haben. Sie fliehen vor einem Leben in den Hochhäusern, sie wollen ihre Freiheit nicht aufgeben. Doch der Preis für diese Freiheit ist ein Leben in ständiger Angst.

Von ihren Eltern haben die Geschwister den Auftrag erhalten, den Weg zu einem sicheren Ort zu finden. Sie haben nur wenige Hinweise und wissen nicht, was sie am Ziel erwartet. Aber sie wissen, dass sie ankommen müssen, um endlich ohne den ständigen Begleiter Angst leben zu können. Und so laufen sie und laufen sie, bereits seit vielen Jahren, immer auf der Hut vor anderen Menschen und nur die vage Aussicht auf eine Verbesserung ihrer Lage treibt sie an. Eines Tages verschwindet Tobias, der große Bruder von Jona und ihr Fels in der Brandung. Fortan muss sie die Verantwortung tragen, was ihr zusehends über den Kopf wächst. Als dann auch noch ein Fremder zu ihnen stößt, gerät alles außer Kontrolle.

Wir hatten die Modernisierung hautnah miterlebt, waren Zeugen davon geworden, wir dort, wo einst Leben war, nun nur noch Stille und Staub geblieben waren. Stille und Staub und wir.

Wo einst Leben war, S. 158

An einer Stelle im Buch hatte ich mir einen Gedanken aufgeschrieben. Dieser lautete: Dieser Roman ist wie ein einziges langes Sterben, ein Sterben der Welt und ein Sterben der Menschen. Und das bringt mein Empfinden beim Lesen tatsächlich auch rückblickend ziemlich exakt auf den Punkt. „Wo einst Leben war“ ist eine Herausforderung an einen selbst – durchzuhalten, dabei zu bleiben, nicht schwach zu werden und abzubrechen, nicht aufzugeben. Vor allem waren es die verstörenden und emotional krassen Entwicklungen, die sich immer wieder aufs Neue wie ein Tritt in den Magen anfühlten.

Hinzu kommen aber auch leider einige Längen, die zum Abbruch verleiten können. Beispielsweise ist der über 80 Seiten lange Prolog mit zwei Zeitebenen zwar spannend aufgebaut, doch es dauert, bis man in der Handlung drin ist. Später wird der Alltag der Kinder sehr anschaulich und ausführlich beschrieben und man versinkt immer wieder tief im Gedankenkarussel der Protagonistin. Beides hätte man meiner Meinung nach ein wenig straffen können.

Ich wollte leben, aber nicht mehr kämpfen müssen. Ich war am Ende. Nein, ich war schon über das Ende hinaus.

Wo einst Leben war, S. 407

Hält man diese Längen aus, ist „Wo einst Leben war“ ein intensives Leseerlebnis. Das liegt im ausdrucksstarken und dramatischen Schreibstil der Autorin begründet. Ich habe mich während des Lesens diverse Male gefragt, wie sie es überhaupt durchgehalten hat, diesen Roman zu schreiben. Wie sie immer wieder die Kraft gefunden hat, sich mit diesem schwermütigen und deprimierenden Stoff auseinanderzusetzen. Sie verliert sich in intensiven Schilderungen der Gemütslage von Jona, sie taucht ein in ihre Hoffnungslosigkeit, ihre Zweifel, ihre Furcht und ihre Trauer. Teils wurde es mir zu viel, ich wollte ihren Gedanken nicht mehr folgen und hielt ihre bedrückenden Emotionen nicht mehr aus. Doch gerade dadurch sticht dieser Roman, wie ich finde, extrem aus dem Genre heraus. Kein Vergleich zu „Die Bestimmung“ von Veronica Roth oder „Die Tribute von Panem“ von Suzanne Collins, wo ich mir immer noch ein klares Gefühl von „das ist Fiktion, am Ende wird es wieder besser“ bewahren konnte. Im Vergleich zu „Wo einst Leben war“ sind genannte Dystopien ein Feuerwerk der Hoffnung.

Eine einzige Lüge. Eine Lüge, die uns vorgegaukelt hatte, das Leben sei ein Traum. Vielleicht war es gut zu erwachen. Der Tod war ein Traum. Das Leben war launenhaft, bösartig und erbarmungslos. Wir hatten es nur nicht wahrhaben wollen.

Wo einst Leben war, S. 515

Was man hier demnach auch nicht bekommt, ist eine auflockernde Liebesgeschichte. Zwar nähern sich zwei Figuren etwas an, doch dies bleibt so sehr eine Nebenhandlung, dass sie quasi nicht ins Gewicht fällt. Unter Umständen liegt das aber auch daran, dass die Nebenfiguren durch die Ich-Perspektive von Jona recht blass bleiben. Die jüngeren Geschwister Emma, Luki und auch Taube sind beinahe durchgehend verängstigt oder besorgt. Darüber hinaus zeigen sie wenige Charakterzüge. Tobias bleibt ein ewiges Geheimnis, er ist zu verschlossen, um mehr von sich preiszugeben, und auch Oliver erlaubt wenig Einblicke in seine Gedanken- und Gefühlswelt. Schade, denn hier andere Blickwinkel kennenzulernen, wäre unter Umständen eine Bereicherung gewesen.

Lena Wanke erzählt in „Wo einst Leben war“ von einer Reise durch eine von Menschenhand zerstörte und unbewohnbare Landschaft. Sie schildert die Strapazen von Jona und ihren Geschwistern, die einen sicheren Ort zum Leben finden wollen. Diese Dystopie ist nichts für schwache Nerven, sie fesselt und stößt ab, sie schenkt Hoffnung, nur um sie wieder zu nehmen. Eine anstrengende, herausfordernde und ungewöhnliche Lektüre, die sich dennoch zu lesen lohnt, finde ich, da sie entgegen anderen Romanen dieses Genres nichts beschönigt.


Wo einst Leben war

Verlag (Copyright Cover): Lektora Verlag
Preis: 16.80 Euro
Format: Taschenbuch
ISBN: 978-3-95461-160-7
Erscheinungstermin: 10. September 2020

Klappentext: Wie viele Jahre es her ist, dass ihre Eltern Jona und ihre vier Geschwister fortschickten, um der neuen Herrschaftsordnung Regent Kaimars zu entkommen, weiß sie schon nicht mehr. Doch das Land, durch das sie fliehen, ist das seine, zerstört von der Natur und den Menschen. Das Ziel soll ihnen eine sichere Zukunft bieten. Doch sie wissen nicht, ob es überhaupt noch existiert. Sie wissen nicht, ob sie es jemals erreichen werden.
Als klar wird, dass nicht alle Mitglieder der Gruppe die Reise überleben können, stellt sich die Frage, ob es das überhaupt noch wert sein kann. Wählt Jona für ihre Gefährten ein gemeinsames Leben in ständiger Angst oder den sicheren Hafen für die Übriggebliebenen?

Autor*in: Lena Wanke, geboren 1999 in Hamburg, studiert Englisch, Deutsch und Geschichte auf Lehramt. Mit dem Schreiben eigener Geschichten begann sie im Laufe ihrer Schulzeit, um sich die Langeweile im Unterricht zu vertreiben. Nach dem Abitur schrieb sie viele weitere Bücher und Geschichten und hört dabei gern laute Musik.


Bei diesem Titel handelt es sich um ein Rezensions- bzw. Presseexemplar. Für die Rezension habe ich keine Bezahlung erhalten. Auf meinem Blog findet ihr stets meine unabhängige und persönliche Meinung zu Titeln.

2 Gedanken zu “Wo einst Leben war von Lena Wanke | Rezension

  1. Hallo Anna!
    Oh man, da wird jman ja schon direkt beim Lesen deiner Rezension ein wenig melancholisch. Und trotzdem hat mich das Ganze nun doch so sehr angesprochen, so neugierig gemacht, dass ich mir dieses Buch definitiv notieren werde. Allein schon, weil es keine Liebesgeschichte gibt (die ich eigentlich nirgends brauche, schon gar nicht in einer Dystopie…..). Danke dir für diese schöne Vorstellung!

    Alles Liebe!
    Gabriela

    Gefällt 1 Person

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