Mit „LoveStar“ wagt Andri Snær Magnason einen absurden, düsteren, tragischen, wahnwitzigen, bitterbösen und überraschend humorvollen Blick in die Zukunft der Menschheit. Tatsächlich ist es die spannendste Dystopie, die mir seit langem begegnet ist. In ihr denkt und entwickelt der Autor und Umweltaktivist Magnason konsequent die digitale und mediale Gesellschaft weiter, gießt sie zu einem fragwürdigen Endprodukt und beschreibt gleichermaßen ihr selbst verursachtes Ende. Es ist eine Reise durch die Abgründe der menschlichen Konsumgesellschaft, in der Menschen von Werbung beeinflusst und gesteuert werden und den Blick für das echte Leben vollkommen aus den Augen verloren haben. Ein durch und durch faszinierender Roman, der mich von der ersten bis zur letzten Seite erstaunt, überrascht und gefesselt hat.
Das Zentrum all diesen Geschehens bilden die gewaltigen, bahnbrechenden Ideen von LoveStar sowie die Liebesgeschichte von SigrÍður und Indriði. Beginnen wir mit LoveStar, dem Namensgeber des Romans. Die Erfolgsgeschichte von LoveStar beginnt mit der Erforschung von Vogelwellen. Diese Wellen ermöglichen es einem Vogelschwarm, in absolutem Gleichklang zu fliegen, ohne offenkundige Signale untereinander auszutauschen. LoveStar hat es geschafft, diese Vogelwellen für den Menschen zu adaptieren, um Geräusche, Bilder und andere Signale ohne zwischengeschaltete Geräte zwischen Menschen übermitteln zu können.
Der „handfreie moderne Mensch“ war geboren. Kabel und Leitungen gehören der Vergangenheit an, Menschen können sich Bilder und Filme direkt auf die Augenlinse übertragen lassen, sie telefonieren ohne Handy, sie hören Radio ohne Kopfhörer und können sogar als Werbetreibende arbeiten, indem die ISTAR (die Image-, Marketing- und Öffentlichkeitsbereich der LoveStar Stimmungsabteilung) an ihrem Sprachnerv andockt und die Menschen Werbebotschaften aussprechen lässt. Flaniert man also an einem Café vorbei, sollte man immer damit rechnen, dass ein Passant auf einmal „EEEEEISKALTES MALZBIER!“ kräht. Oder ein Bekannter empfiehlt im Gespräch plötzlich einen neuen Film im Kino. In beiden Fällen handelt es sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit um eine neue Werbekampagne, die vermarktet werden muss. Die sogenannten Kräher, Geheimwirte oder Fallen bekommen natürlich Geld für ihren Einsatz – oder sie zahlen damit Schulden ab. (Dann wiederum krähen sie oft nicht ganz freiwillig, aber das ist eine andere Geschichte.)

Alles in allem ist diese Geschichte absolut verrückt! Dennoch wirkt nichts an den Haaren herbeigezogen und unglaubwürdig. Alles ist eine logische Konsequenz von Entwicklungen, die wir heute schon in Grundzügen in unserer Gesellschaft beobachten können. Daher tauchte ich sofort staunend und bisweilen erschrocken in diese seltsame Welt ein, wollte sie verstehen und mehr darüber erfahren. Denn die neue Form der Kommunikation und des Konsums ist noch nicht alles! „Missratene“ Kinder können dank eingefrorener Ersatzexemplare „zurückgespult“ werden und so vor lebenslangem Unglück und finanziellem Ruin bewahrt werden (Versicherungen für „schwierige“ Kinder kosten bedeutend mehr). Es gibt LoveDeath, eine neue Art und Weise, sich bestatten zu lassen. Man reist in fortgeschrittenem Alter nach Island, von wo aus man in einer Rakete ins All geschossen wird, um wiederum beim Eintauchen in die Atmosphäre zu verglühen. Die Familie kann das Spektakel von der Erde aus verfolgen. Außerdem gibt es inLOVE, wo auf wissenschaftlicher Basis geeignete Paare zusammengerechnet werden. Nur mit dem/der „einzig Wahren“ wird man glücklich (und genießt alle gesellschaftlichen, rechtlichen und finanziellen Vorteile).
Angesiedelt ist LoveStars Imperium im Öxnadalur auf Island, was für mich ein starker Anreiz war, dieses Buch lesen zu wollen. Ich verbinde mit Island insbesondere Dunkelheit und Abgeschiedenheit sowie eine gewisse magische und mysteriöse Aura. Hier scheint alles möglich, hier sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt, was gerade dem Genre Dystopie natürlich sehr zuträglich sein kann. Und ich wurde nicht enttäuscht. Zwar spielen das Land und die ursprüngliche Kultur keine zentrale Rolle, doch Island prägt die Atmosphäre von „LoveStar“ durchaus. Zudem hat mich die Biografie des Autors sehr beeindruckt und man spürt zwischen all der Absurdität und des Humors dennoch die Ernsthaftigkeit, mit der Magnason ihm wichtige Themen aufbereitet hat.
Wer von einer Idee besessen ist, ist jenseits von Gut und Böse. Seine Gedanken bewegen sich auf einer anderen Messlatte. Eine Idee ist maßloser Hunger. Eine Idee ist unterdrückte Gier. Menschen, die Ideen haben, sind die gefährlichsten Menschen auf der Welt, weil sie bereit sind, ein Risiko einzugehen. Sie wollen einfach sehen, was passiert – weiter denken sie nicht.
LoveStar, S. 92
Der allgemeine Reiz der Geschichte liegt zu großen Teilen in der überbordenden Fantasie des Autors. Hinzu kommt ein sehr unterhaltsamer Schreibstil, voller Wortwitz und Slapstick-Momenten, was der Erzählung eine gewissen Leichtigkeit verleiht. Das hebt „LoveStar“ deutlich von anderen Dystopien ab. Doch auch die Figuren lassen einen nicht so schnell los. Vor allem Indriði ist mir ans Herz gewachsen, mit seiner Liebe und Verzweiflung, seinem Leiden und seiner Hoffnung. Steht er anfangs noch etwas wenig seinen Mann, entwickelt er sich gegen Ende zum mutigen Helden. Doch der vermeintliche Antagonist LoveStar ist ebenfalls eine interessante Figur, über die man im Laufe der Geschichte immer mehr erfährt und dessen Schicksal mich am Ende unerwartet berührte.
Das Ende! Ja, was soll man dazu sagen? Das Ende hat es in sich, es ist apokalyptisch-philosophisch-infernalisch (in Ermangelung einer treffenderen Beschreibung). Denn wann sind Grenzen der Beeinflussung und Kontrolle erreicht? Ab wann entgleitet die Selbstwahrnehmung eines Menschen aufgrund seiner Fähigkeiten und seiner vermeintlichen Unfehlbarkeit hin zu einem Gottkomplex? Hier erhebt sich der Roman nochmals über die Ebene der Konsum-, Marketing- und Gesellschaftskritik hinaus, was für mich ein sehr rundes Ende und vor allem eine logische Konsequenz von allem Vorangegangenen war. Großartig.
„LoveStar“ von Andri Snær Magnason ist eine atemberaubende, erschreckende, teils groteske und gleichzeitig irrsinnig lustige Dystopie, die einen zum Lachen und Weinen bringt. Schon nach den ersten Sätzen geriet ich einen Sog, der bis zur letzten Seite nicht nachließ. Eine kluge Beobachtung unserer Gesellschaft, unseres Konsums sowie der Kontrolle, die Konsum und Werbung auf unser Leben haben. Gleichzeitig geht der Autor der Frage nach, wann digitaler, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Fortschritt in Machtmissbrauch und Größenwahnsinn umschlagen. Sehr empfehlenswert und für mich schon jetzt ein Buch, das Kultstatus erlangen kann.
LoveStar
Verlag: Eichborn Verlag
Preis: 14.00 Euro
Format: Taschenbuch
ISBN: 978-3-8479-0057-3
Erscheinungstermin: 30. Oktober 2020
Klappentext: Der international agierende Konzern LoveStar mit Sitz in Island hat eine Methode gefunden, um die Menschheit komplett fernzusteuern. Träume werden entschlüsselt und zu Geld gemacht, der Tod wird zu einem großen Spektakel vermarktet, und die einzig wahre Liebe wird jedem Menschen unwiderruflich per Algorithmus zugerechnet. Ein junges Paar jedoch versucht, sich der totalen Gleichschaltung zu widersetzen und seine ganz individuelle Liebe zu retten – während die Welt ins Chaos stürzt…
Autor*in: Andri Snær Magnason, geb. 1973, ist einer von Islands meistgelobten Nachwuchs-Autoren. Er erhielt im Februar 2010 den höchstdotierten europäischen Kultur-Preis, den KAIROS-Preis. Er hat bisher mit sehr großem Erfolg Kinderbücher, Theaterstücke und ein Selbsthilfebuch für die isländische Nation (Traumland) geschrieben. „LoveStar“ ist sein erster Roman, für den er mit dem Isländischen Bookseller Award ausgezeichnet wurde.
Übersetzer*in: Tina Flecken
Bei diesem Titel handelt es sich um ein Rezensions- bzw. Presseexemplar. Für die Rezension habe ich keine Bezahlung erhalten. Auf meinem Blog findet ihr stets meine unabhängige und persönliche Meinung zu Titeln.
Weitere Stimmen zum Buch
Michael Matzer von Buchwurm.info
Hallöchen Anna,
eine neue Kult-Dystopie?! Klingt spannend. Aldous Huxley hat es zu seiner Zeit vorgemacht, aber hier wird unser aktuelles Konsumverhalten anscheinend in die logische Superlative gesteigert. ich merke es mir, selbst wenn ich es nur als Empfehlung für andere mitnehem, da ich selten Dystopien lese.
Vielen Dank dafür.
Liebe Grüße
Tina
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Huhu Tina 🙂
naja, für mich hat das Buch das Potenzial, ein Kult-Roman zu werden 😉 Aber was zählt schon meine Stimme 😀
Aldous Huxley ist in der Hinsicht wirklich Vorreiter, ‚Brave New World‘ würde ich zu gerne mal wieder lesen. Thematisch gibt es sicherlich die eine oder andere Parallele. Auf jeden Fall freue ich mich, wenn du das Buch empfiehlst, es hat es verdient 🙂
Habe eine schöne Zeit zwischen den Jahren und komm gesund ins Neue!
Liebe Grüße
Anna
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Huhu meine Feine!
Das Buch ist mir hier und dort schon begegnet, deine Rezension ist jedoch die erste, die ich dazu lese. Auf der einen Seite hast du mich absolut angefixt und neugierig gemacht, deine Worte zum Inhalt klingen seeehr reizvoll! Die Thematik tut ihr Übriges. Auf der anderen Seite erinnert es mich stark an die ein oder andere Folge von „Black Mirror“ und ich weiß nicht, ob mich die Geschichte so überraschen könnte wie dich. Aber der Titel wird definitiv im Hinterkopf behalten (=
Mukkelige Grüße!
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Liebe Janna!
Wie schön, von dir zu lesen!
Und herzlich willkommen zur kleinen Buchstabenträumerei 🙂 Versuche selbst, euch auf WordPress zu folgen, erhalte dabei jedoch leider eine Fehlermeldung. Aber der Newsletter ist ja auch schon mal was 😉 (war eh der felsenfesten Überzeugung, dass ich euch auf diesem Wege schon folge :D)
Spannend mit „Black Mirror“. Ich habe die Serie nicht gesehen und nur grob eine Ahnung, worum es darin geht. Daher, klar, hat dieser Roman unter Umständen eine ganz andere Wirkung auf mich. Vielleicht wage ich mal das Experiment, ob mich nun im Umkehrschluss die Serie überraschen kann!
Liebste Grüße und Gemütlichkeit wünsche ich dir ❤
Anna
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Bin viel zu selten bei dir!
Oh, Fehlermeldung? *grübel … gehst du über unseren Blog zu WP oder suchst du dort direkt? Gern nochmal hier probieren: https://wordpress.com/read/feeds/51847535
Ich hab vorsichtshalber dann doch von WP auf Feedly umgeschwenkt, da hab ich besseren Überblick über die Beiträge der Blogs (=
So, nun aber zum eigentlichen Thema XD
Den Titel behalte ich aber im Hinterkopf, die Thematik allein ist es ja nicht, dich hat ja das Gesamtpaket überzeugt und überraschende Thematiken sind toll, aber kein Muss, die Umsetzung muss stimmen und darf dann im Kleinen überraschen (=
Die Serie ist derb, ich glaub direkt die erste Folge von Staffel 1 ist heavy und schreckt viele ab. Da du alle Folgen und Staffeln wild durcheinander schauen kannst, solltest du nicht unbedingt mehr der anfangen, glaub das ist nichts für dich.
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Oh danke für die Warnung! Ich bin schon ziemlich empfindlich, wenn es um Szenen in Filmen und Serien geht. Dann mache ich mal einen großen Bogen um die erste Folge 🙂
Genau über den Link wollte ich euch folgen, aber da erscheint die Fehlermeldung. „Beim Folgen ist leider ein Problem aufgetreten. Versuche es später noch einmal.“ Aber vielleicht liegt das ja auch an meinem Laptop… der ist nicht mehr so ganz tip top in Schuss 😉 Dann müssen es die anderen Sozialen Medien tun 🙂
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Oh, das ist aber miste … befürchte nicht das es an deinem Gerät liegt …
Ja, ich denke sogar: lass es ganz oders chalte wirklich dann sofort aus, wenn deine Grenze erreicht ist. Ich glaube – das meine ich absolut nicht böse, aber weiß mich nicht anders auszudrücken – ich denke du bist zu zart besaitet dafür
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