Nachdem mich Tania Witte zuletzt mit „Die Stille zwischen den Sekunden“ völlig vom Hocker gehauen hatte, schickte mich die Autorin mit „Marilu“ nun direkt wieder auf eine emotionsgeladene Reise. Die Reise schmerzte enorm, manchmal drohte sie mich zu erdrücken, doch am Ende konnte ich spüren, wie sich aus alldem Stärke und Mut entwickelten. Den Mut, das Leben in all seinen Facetten zu spüren und darauf zu vertrauen, dass man damit umgehen kann. Und die Stärke, die aus Freundschaft erwächst und daraus, sich anderen anzuvertrauen. Ein intensives Leseerlebnis, zu dem ich euch hier mehr erzählen möchte.
[Content Note: psychische Erkrankungen, Suizid, Selbstverletzung]
In dieser vergleichsweise kurzen Geschichte, in diesem wenige Tage dauernden Roadtrip, steckt unglaublich viel Gefühl. Dabei beginnt alles so unscheinbar – Elli bekommt einen Brief. Doch dieser Brief wirbelt ihr gesamtes Leben durcheinander und weckt unliebsame Erinnerungen. An Marilu, ein Mädchen mit einer bipolaren Störung, und an die psychiatrische Klinik „Sonnenblick“, in der Elli einige Zeit therapiert wurde, als sie von den Anforderungen des Lebens überwältigt wurde. In der Klinik lernte sie Marilu kennen, mit der sie schnell eine tiefe Freundschaft verband, bis Elli ihr an ihrem letzten gemeinsamen Abend ein Geschenk machte – eine Sonnenuhr – und Marilu versprach, sie zu behalten, bis sie sich entschließen sollte, sich das Leben zu nehmen.
In den folgenden Monaten verdrängte Elli ihre Begegnung mit Marilu und ihr „Tal“, sie brach den Kontakt ab. Denn was in „Sonnenblick“ passiert, bleibt in „Sonnenblick“. Zu sehr verfolgt Elli die Angst, einen Rückfall zu erleiden. Doch nun steht sie da, mit der Sonnenuhr in der Hand und den Worten von Marilu, die Elli dazu auffordern, ein „Spiel“ zu spielen. Sie soll sich gemeinsam mit Marilus jüngerem Bruder Lasse auf die Suche nach ihr zu machen – denn nur, wenn sie sie rechtzeitig finden, können sie Marilu aufhalten.
… also spielen wir das Spiel des Lebens, ihr und ich, oder besser: das Spiel um das Leben, meins nämlich, und vergesst niemals: Egal, ob das Leben mich liebt – ich liebe euch, und wie!
Marilu, Seite 91
Mein erster Gedanke war „uff, ist das heftig“ und „so etwas passiert doch nicht in echt“. Aber denkste! Tania Witte ist dies tatsächlich ganz ähnlich widerfahren, wie sie im Rahmen einer Online-Buchpremiere erzählte. Danach betrachtete ich die Geschichte mit anderen Augen – die Handlung wurde schlagartig realistisch und somit um 100 Prozent eindringlicher.
Vielleicht hatte ich mir auch deshalb anfangs gewünscht, mehr über Ellis Zeit in „Sonnenblick“ und ihre sowie Marilus Erkrankung zu erfahren. Ich wollte alles von Anfang an nachvollziehen können. Stattdessen wurde ich ohne viel Vorwissen mitten ins Geschehen gestoßen, was sich später als genau richtig erwies, denn als Leser:in ist man so ganz nah an Elli dran. Sie KANN sich nicht mit „Sonnenblick“ auseinandersetzen und so blieben auch mir erst einmal weitere Einblicke verwehrt. Erst später erfährt man in kurzen Rückblicken, was Elli in der Klinik erlebt hat und wie die anschließende Therapie verlief. Die vollständigen Zusammenhänge erschließen sich einem somit erst Stück für Stück und es tut weh, mitzuerleben, wie sehr Elli seit ihrem Aufenthalt in der Klinik daran arbeitet, ihr Leben im Griff zu haben, alles zu vergessen und zu verdrängen. Sie will funktionieren und und bemerkt dabei nicht, wie sehr sie das erneut in eine Sackgasse führt.
Ich schaff das schon, hörte Elli ihren Vater und darüber legte sich ihre eigene Stimme, die denselben Satz sagte, hundertmal, tausendmal, zu allen.
Marilu, Seite 249

Die Story wurde mit viel Bedacht und Aufmerksamkeit aufgebaut. Jede neue Nachricht von Marilu, jede neue Botschaft, bringen Elli und Lasse näher an ihre Grenzen. Zudem erfährt man in genau den richtigen Dosen Details über Marilus und Ellis gemeinsame Zeit in „Sonnenblick“ und Ellis Leben danach. So nehmen gleichermaßen Spannung, Mitgefühl und Verständnis zu – aber auch die Wut kochte irgendwann in mir hoch. Denn was Marilu macht, was sie Elli und ihrem Bruder abverlangt, ist schrecklich. Die Wut ballte sich so kräftig in meinem Bauch, dass ich gleichsam wie Elli spürte, welche Kraft die Wut in einem weckt. In Elli weckt sie die Kraft, sich Herausforderungen zu stellen und dadurch wieder vollständig zurück ins Leben zu finden. Sie gibt ihr Selbstvertrauen und hilft ihr dabei, sich zu öffnen und sich nicht für ihre Zeit in „Sonnenblick“ zu schämen. Die Wut ermöglicht es ihr, das Eis zu durchbrechen. Diese Kraft übertrug sich von Elli auf mich und ich kann mir vorstellen, dass diese Geschichte auch andere Leser:innen beflügelt.
Die Wut schoss aus ihr heraus und mit ihr der Schmerz, den sie seit Jahren gehortet hatte, den sie beschützt und in sich vergraben hatte, den sie gelernt hatte zu kanalisieren, den sie satthatte. Sie hatte den Schmerz satt, die Kontrolle und sich selbst auch. Und Marilus Scheißspiel, das hatte sie sowas von satt!
Marilu, Seite 157
Eine absolute Bereicherung waren darüber hinaus die Nebenfiguren. Es waren nicht viele, die Geschichte zentriert sich sehr um das Dreigestirn Elli-Marilu-Lasse, doch umso wichtiger waren mir die Figuren, die „Außenstehende“ sind. Tom, der Freund von Elli, ist mir dabei besonders ans Herz gewachsen. Das lag vermutlich daran, dass er zu Beginn gewissermaßen ein Spiegel meiner eigenen Fassungslosigkeit war. Später zeigte er aber, dass mehr in ihm steckt und das war eine ganz wundervolle Überraschung. Jule stieß erst gegen Ende der Geschichte dazu, doch auch sie zeigte ungeahnte Facetten.
Geschrieben ist „Marilu“ – wie bei Tania Witte nicht anders zu erwarten – wunderschön und stellenweise mit einer angenehmen, auflockernden Prise Humor. Die Autorin spielt mit den Worten, stellenweise wirken ihre Sätze wie Musik und die Geschichte bekommt ihren ganz eigenen Rhythmus. Zudem hat sie das notwendige Fachwissen über psychische Erkrankungen im Gepäck. Besonders wichtig und wertvoll finde ich in diesem Zusammenhang, dass die Autorin sich nie wertend über psychische Erkrankungen äußert, sondern immer sehr respektvoll und feinfühlig. Rundum gelungen!
„Marilu“ von Tania Witte ist eine intensive Gefühlsachterbahn, ein Roadtrip der ganz anderen Art. Im Zentrum der Geschichte stehen psychische Erkrankungen und Suizid, dem sollte man sich bewusst sein, ehe man zu dem Roman greift. Doch der Autorin ist es gelungen, dass das Thema einen nicht erdrückt, sondern stärkt. Das Ergebnis ist ein berührendes Porträt über Freundschaft, Vertrauen und Liebe, mit ganz viel Empathie für Menschen mit psychischen Erkrankungen.
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Marilu
Verlag: Arena Verlag
Preis: 15.00 Euro
Format: Taschenbuch
ISBN: 978-3-401-60588-3
Altersempfehlung: ab 14 Jahre
Erscheinungstermin: 11. März 2021
„Wenn ich ES jemals tue, geb ich dir die Kette zurück, Elli“, hatte Marilu geschworen.
Zwei Jahre später freut sich Elli auf ihren Schulabschluss und hat sowohl Marilu als auch den Schwur vergessen. Doch dann findet sie die Kette in der Post. Der beiliegende Brief ist ein Hilferuf – und der Startschuss zu einem fiebrigen Roadtrip. Die Spur, die Marilu gelegt hat, bringt Elli und Marilus Bruder Lasse an ihre Grenzen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt und allen wird klar: Marilu testet das Leben. Und Elli muss dafür sorgen, dass das Leben diesen Test besteht.
Autor:in: Tania Witte ist Schriftstellerin, Journalistin und Spoken-Word-Performerin. Sie lebt und schreibt hauptsächlich in Berlin und am liebsten in Den Haag (NL). Neben diversen (inter)nationalen Stipendien erhielt sie 2016 den Felix-Rexhausen-Sonderpreis für ihre journalistische Arbeit, 2017 den Martha-Saalfeld-Förderpreis für Literatur sowie 2019 den Mannheimer Feuergriffel für Jugendliteratur. Im selben Jahr wurde ihre Arbeit mit einem Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds gefördert. „Marilu“ wurde mit dem Mannheimer Feuergriffel ausgezeichnet. „Die Stille zwischen den Sekunden“ erhielt das KIMI-Siegel für Vielfalt im Jugendbuch. (www.taniawitte.de)
Bei diesem Titel handelt es sich um ein Rezensions- bzw. Presseexemplar. Für die Rezension habe ich keine Bezahlung erhalten. Auf meinem Blog findet ihr stets meine unabhängige und persönliche Meinung zu Titeln.
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