„So wie du mich kennst“ von Anika Landsteiner erzählt von der engen Beziehung zwischen zwei Schwestern und von der Schwierigkeit, plötzlich alleine zurückzubleiben. Es geht um Karla und Marie, die einander so nahestehen und sich im Wesen doch sehr unterscheiden. Marie sehnt sich fort aus dem kleinen Dorf Seekirch in Unterfranken, in dem sie aufgewachsen sind und in dem jeder jeden kennt und jeder alles vom anderen weiß. Sie möchte als Fotografin Karriere machen und Neues erleben. Karla hingegen fühlt sich wohl in ihrer Heimat, mit ihrem Job bei der Lokalzeitung und ihrem vorhersehbaren, ruhigen Leben. Worauf sie nicht vorbereitet ist, ist die gähnende Leere, die nach dem Tod von Marie in ihr herrscht. Und auch nicht auf die Fragen, die ihr Tod aufwirft. Was hat ihre Schwester vor ihr verheimlicht? Wie soll Karla ohne Marie weiterleben, wie diese Lücke in der Familie füllen? Und sollte ihr eigenes Leben nicht eigentlich „größer“ sein oder ist es okay, mit weniger glücklich zu sein?
Diese Fragen ziehen sich wie ein roter Faden durch den Roman und ich fand es sehr interessant, hierzu den Gedanken von Karla zu folgen. Erzählt wird weitestgehend aus ihrer Perspektive, aus der Gegenwart, in der Trauer, Schmerz, Zweifel und eine gewisse Orientierungslosigkeit vorherrschen. Sie reist nach New York, um die Wohnung ihrer Schwester aufzulösen. Sie begegnet ihren Freunden, sie streift durch die Stadt, fühlt sich darin verloren und kann gleichzeitig nicht fort, würde das doch bedeuten, ihre Schwester endgültig loszulassen. So hängt sie in der Schwebe und wird zu allem Überfluss unversehens durch erschreckende Fotos und ein Ehepaar im Nachbarhaus in eine ganz andere Geschichte hineingezogen.
Parallel dazu werden Rückblicke in die Vergangenheit eingeflochten, die aus der Perspektive von Marie erzählt werden. Sie erinnert sich an ihre Ehe, an die schönen Momente, aber viel mehr an die schlimmen Zeiten. Ängste und eine große Scham prägen den Alltag von Marie, so sehr, dass sie sich nicht einmal Karla anvertrauen kann. Doch kann sie die schrecklichen Erinnerungen nicht einfach hinter sich lassen? Wenn sie nicht darüber redet? Wenn sie so tut, als sei nichts geschehen und sie hätte alles unter Kontrolle? So stürzt sich Marie in neue Aufgaben, immer in der Hoffnung, ihrer Vergangenheit zu entkommen.
Es hatte Marie immer entsprochen, zu gehen, und es hatte mir immer entsprochen, zu bleiben. Da war nichts Schlechtes dran. Es war einfach so.
So wie du mich kennst, Seite 49
Beide Erzählstränge sind äußerst emotional und sie streifen wichtige gesellschaftliche Themen. Sie zeigen vor allem auf, wie wichtig es ist, sich Freunden und/oder der Familie anzuvertrauen und sich zu öffnen. Dass es Erlebnisse gibt, die man nicht alleine und für sich aufarbeiten und verarbeiten kann. Dass eine Flucht in Aktionismus nicht hilft, dass manchmal auch professionelle Hilfe notwendig und das völlig okay ist. Diese Botschaft finde ich ungeheuer richtig und wichtig.
Dies trifft ebenso auf die Familie von Karla und Marie zu, insbesondere auf die Mutter der beiden Schwestern. Auch sie hat sich in der Kindheit der beiden Mädchen nach einem Kuraufenthalt verändert. Doch die Veränderung wird totgeschwiegen und so legt sich jede/r seine eigene Wahrheit zurecht. Hinzu kommen die nagenden Zweifel von Karla an ihrem eigenen Leben. War die Trennung von ihrem langjährigen Freund die richtige Entscheidung? Ist es in Ordnung, den sicheren Dorfalltag dem aufregendem Leben der Großstadt vorzuziehen? Sollte sie sich nicht weiterentwickeln, nach mehr streben, sich ins Abenteuer stürzen?
Ich hatte Marie verloren, war selbst nur noch die Hälfte einer Einheit, und weil das nicht reichte, um ein Durchschnittsleben zu erschüttern, hinterließ sie einen Ordner voll mit Bildern, die mir eine Verantwortung zuschoben und Fragen aufwarfen.
So wie du mich kennst, Seite 142
„So wie du mich kennst“ ist folglich enorm vielschichtig und nicht nur die Protagonisten tragen dazu bei. Die Nebenfiguren runden den Roman ab, insbesondere sie zeigen auch, wie komplex das Leben und die Menschen sind.
Trotz all dieser positiven Aspekte, stellte ich jedoch im Verlauf der Lektüre fest, dass mich die Geschichte nicht so recht berühren wollte. Objektiv betrachtet hätte sie es tun sollen, dieser Roman ist großartig konstruiert und geschrieben, doch leider bewegte er wenig in mir. Das gilt sowohl für die Erfahrungen von Marie, die schmerzhaft und belastend sind, als auch für die Trauer von Karla. Warum ließ mich Anika Landsteiners Roman eher kalt? Meine starke Vermutung ist, dass mir die Geschichte zu ordentlich, zu durchdacht, zu perfekt inszeniert war. Überall schließt sich ein Kreis, ein Zahnrad greift ins andere. Das bewundere ich durchaus, doch auf mich wirken Geschichten stärker, die überlegt sind, weniger ausgefeilt. In dem nicht gefühlt jeder Dialog eine Botschaft enthält. Diese Geschichten bringen ganz viel in mir in Bewegung.
„So wie du mich kennst“ von Anika Landsteiner blickt tief in die Seelen der Figuren, ein hervorragend aufgebauter Roman, der wichtige Fragen aufwirft und damit sicherlich zu Recht viele LeserInnen begeistert. Ich habe die Geschichte gerne gelesen, allerdings war sie für meinen Geschmack etwas zu perfekt konstruiert, so dass ich nicht so recht Zugang fand und emotional leider nicht abgeholt wurde. Da dies aber lediglich meine subjektive Meinung ist, möchte abschließend dringend auf die am Ende verlinkten Rezensionen hinweisen, die sehr viele positive Aspekte hervorheben und eine große Leseempfehlung aussprechen.
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So wie du mich kennst
Verlag: S. Fischer Verlage
Preis: 16.99 Euro
Format: Taschenbuch
ISBN: 978-3-8105-3074-5
Erscheinungstermin: 28. April 2021
Content Notes: Häusliche Gewalt
Karlas Leben ist stehengeblieben. Sie trägt eine Urne nach Hause, darin die Asche ihrer Schwester Marie. Und plötzlich ist nichts mehr so, wie es einmal war. Marie war Karlas Seelenverwandte, ihr Kompass in diesem Chaos, das sich Leben nennt. Und während sich dieses Chaos um sie herum einfach weiterdreht, reist Karla nach New York, um dort die Wohnung ihrer Schwester aufzulösen. Als sie Fotos findet, die so verstörend wie alltäglich sind, fragt sie sich, wie gut sie Marie wirklich kannte. Die Schwester, die so ganz anders lebte als sie. Die erfolgreich und selbstbewusst war. Was Karla auf den Bildern sieht, verändert ihren Blick auf Marie, ihren Blick auf sich selbst und auf das ganze Leben vor ihr.
Autor:in:
Anika Landsteiner (*1987) schaut genau hin: Ihr ist es wichtig, die Empfindungen und Erlebnisse fremder Menschen selbst zu fühlen. Als Autorin, Journalistin und Podcasterin kann sie nur so authentisch sein. Seit mehreren Jahren beschäftigt sich die Münchnerin privat wie auch beruflich mit gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, vor allem gegenüber Frauen. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen die komplexen Geschichten dieser Menschen – das, was sie beschäftigt, was ihnen widerfährt, was sie ausmacht.
http://www.anikalandsteiner.de
Instagram: @anikalandsteiner
Podcast: »Über Frauen«
Bei diesem Titel handelt es sich um ein Rezensions- bzw. Presseexemplar. Für die Rezension habe ich keine Bezahlung erhalten. Auf meinem Blog findet ihr stets meine unabhängige und persönliche Meinung zu Titeln.
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