Gemma. Sei glücklich oder stirb von Charlotte Richter | Rezension

„Gemma. Sei glücklich oder stirb“ ist ein ziemlich provokanter Titel, finde ich, zumindest für ein Jugendbuch. Bei einem Thriller würde er als normal durchgehen, doch davon ist die Handlung recht weit entfernt. Ich stehe dem Titel zwar skeptisch gegenüber, inhaltlich geht es in diesem Near-Future-Fantasyroman jedoch tatsächlich um genau das: Wer nicht glücklich ist, stirbt. Denn vor weniger als hundert Jahren, also in unserer Gegenwart, landete „der Glanz“ aus dem Weltraum in einer Stadt in Deutschland. Alle Menschen in unmittelbarer Umgebung starben und der Glanz, ein regenbogenfarbig schillerndes Etwas, überzog den Himmel rund um den gesamten Erdball. Fortan müssen die Menschen glücklich sein, wer dies nicht ist, löst sich in besagtem Glanz auf. Klingt ziemlich nach Science-Fiction, oder? Auf jeden Fall ist die Idee ungewöhnlich und da der Roman zudem aus der Feder einer deutschen Autorin stammt, war ich neugierig genug, um diesen Titel zu lesen. Wie mir „Gemma. Sei glücklich oder stirb“ gefallen hat, erfahrt ihr hier.

Gemma, die Protagonistin der Geschichte, ist glücklich – obwohl ihre Mutter kurz nach der Geburt starb und ihr Vater kürzlich erst in 2, dann in die 3. Zone abgerutscht ist. Sichtbar gemacht wird diese Veränderung durch sogenannte Arkaniten, die als Kette um den Hals getragen werden. Sind sie golden, befindet man sich in Zone 1 und alles ist in bester Ordnung. Befindet man sich in Zone 2 ist auch noch alles okay, doch man sollte sich um Positivität bemühen. In Zone 3 und 4 wird man entweder in spezielle Zentren und Erholungsheime geschickt, wo mithilfe von sogenannten Modulationen, also der positiven Beeinflussung auf Traumebene, versucht wird, den Abstieg zu stoppen und die Menschen wieder in Zone 1 und 2 zu katapultieren. Oder man landet in Cloverhill, in Quarantäne, um andere nicht mit Negativität anzustecken. Wer hingegen in Zone 5 ist, ist ein hoffnungsloser Fall.

Um zu verhindern, dass ihr Vater weiter abrutscht und aus der Quarantäne nach Hause zurückkehren kann, kämpft Gemma um die Aufnahme in die Akademie, ein Forschungszentrum unweit der Einschlagstelle des Glanzes. Dort lernen die Student:Innen, Modulationen durchzuführen und so ihren Teil im Kampf gegen negative Gefühle beizutragen. Und ist Gemma erst Studentin, ist sie einflussreich genug, um ihren Vater für Modulationen zu qualifizieren. Doch kaum ist sie in der Akademie angekommen, lernt sie Keno kennen. Er ist Grenzgänger, also bewusst in der 3. Zone, und er bringt ihr gesamtes Weltbild ins Wanken.

Anfangs ahnten die Menschen nicht, welche Folgen das [der Glanz] hätte. Bis die ersten ihr Leben verloren. Heute haben wir verstanden, was der Glanz von uns verlangt. Er hat eine Welt geschaffen, in der wir nur überleben, wenn wir glücklich sind.
Wer nicht glücklich ist, stirbt.

Gemma. Sei glücklich oder stirb, Seite 10

Mir gefiel die Idee von „Gemma. Sei glücklich oder stirb“ gut. Sie fühlte sich frisch und ungewöhnlich an, mal wieder etwas anderes als Climate Fiction oder andere beliebte Dystopie-Szenarien. Dennoch hatte ich mit dem ein oder anderen Aspekt des Konzepts Schwierigkeiten. So ist es bekanntlich der Glanz, der Menschen tötet, die sich in der 5. Zone befinden. Warum wird dann das Glücklichsein so verherrlicht? Hätte sich die Menschheit nicht eher gegen den Glanz auflehnen müssen? Hätte nicht versucht werden müssen, den Glanz zu erforschen, um ihn irgendwann wieder vertreiben zu können? Stattdessen wird so getan, als wäre es das höchste Gut, immer glücklich zu sein. Das Glücklichsein wird meinem Empfinden nach von zu vielen gar nicht als eine vom Glanz auferlegte Daseinsform betrachtet. Ständig fragte ich mich: Wie konnte innerhalb von nur 80 Jahren eine derartige „Positiv-Gesellschaft“ entstehen? Das erschien mir einfach nicht logisch.

Auch nicht ganz schlüssig erscheint mir, weshalb Menschen, die in der 3., 4. oder 5. Zone sind, zunehmend lethargisch werden. Teilweise sind sie schlicht bewegungsunfähig und können sich kaum vom Sofa erheben. Wieso werden Menschen mit negativen Gefühlen wie Trauer, Angst und Wut auf so drastische Weise dargestellt? Es wirkte auf mich, als würden Menschen in tieferen Zonen allesamt an einer Depression erkrankt sein – zumindest deuten Symptome wie Teilnahmslosigkeit oder starke Müdigkeit darauf hin. Alle negativen Empfindungen in ihrer Intensität einer Depression gleichzusetzen, erschien mir jedoch nicht richtig und zu pauschalisierend. Hier hätte die Autorin meiner Meinung nach stärker differenzieren müssen.

„Wenn jemand sterben sollte, den ich liebe“, sagt er ruhig, „will ich mir nicht anhören müssen, dass ich nach vorn blicken und positiv denken soll. Ich will verzweifelt und traurig sein dürfen, auch wenn es so schlimm ist, dass ich es fast nicht aushalte. Ich will das alles. Weil es dazugehört.“

Gemma. Sei glücklich oder stirb, Seite 121

Teilweise empfand ich in diesem Zusammenhang auch die Entwicklung der Figuren nicht ganz stimmig. Natürlich erlebt Gemma vieles, was sie traurig macht und was sie ihre bisherigen Überzeugungen infrage stellen lässt, ihr vollständiger Stimmungswandel war mir dennoch zu abrupt. Kaum dass sie Keno begegnet, beginnt sie zu zweifeln und allzu schnell ändert sie ihre gesamte Sicht auf die Welt. Ebenso rasch steigt sie in tiefere Zonen ab. Wieso ist das so schnell möglich? Zudem wirkte es auf mich so, als würden die Figuren, allen voran Keno, bewusst entscheiden können, von der 4. in die 5. Zone abzusteigen. Auch dies erschien mir nicht schlüssig, denn Gefühle, so meine Meinung, lassen sich nicht derart bewusst steuern.

Spannend und gelungen ausgearbeitet fand ich hingegen den Aspekt der Selbstoptimierung, der immer wieder im Laufe der Geschichte aufgegriffen wird: Bist du nicht glücklich, hast du es nicht genug probiert, hast du nicht genug an dir gearbeitet. Du hast nicht den neuesten Ratgeber gelesen, nicht die Superfoods gegessen, nicht genug meditiert auf dem besten Meditationskissen. Immer ist die Botschaft, man habe sich nicht genug angestrengt, nicht das richtige konsumiert, um das Glück zu fühlen. Hinter dem Gücklichsein steckt eine ganze fragwürdige Marketing-Maschinerie, die einigen wenigen Menschen zu Reichtum verhilft.

Alles in allem kommt mir das sogar erschreckend bekannt vor. Ticken wir nicht auch schon oft genug so? Hecheln wir nicht auch jedem neuen Yoga- und Hygge-Trend hinterher, um möglichst ausgeglichen, zufrieden und in uns selbst ruhend zu sein? Und vergessen wir darüber nicht oft, dass uns schlicht ein fauler Tag auf dem Sofa gut tun würde? Schön, dass solch eine gesellschaftliche (Konsum-)Kritik auch in Jugend-Fiction angesprochen wird.


„Gemma. Sei glücklich oder stirb“ von Charlotte Richter überzeugte mich vor allem mit der ungewöhnlichen Idee des Glanzes und dem damit einhergehenden Zwang, immer glücklich zu sein. Welche Folgen hat permanentes Glücklichsein? Wie kann das überhaupt gelingen? Darüber hinaus ist diese Near-Future-Fiction spannend und bisweilen romantisch. Doch leider habe ich einige Aspekte der Handlung als unlogisch oder nicht plausibel empfunden, so dass ich insgesamt ein wenig enttäuscht war. Für andere Leser:Innen hält der Roman aber vielleicht unterhaltsame Lesestunden bereit.

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Gemma. Sei glücklich oder stirb

Copyright: Arena Verlage

Verlag: Arena Verlag
Preis: 18.00 Euro
Format: Hardcover
ISBN: 978-3-401-60543-2
Erscheinungstermin: 29. April 2021

Die sechzehnjährige Gemma lebt in einer Welt, in der Glück lebensnotwendig ist. Jedem, der nicht glücklich ist, droht nach wenigen Stunden der Tod. Nach ihrer Aufnahmeprüfung in der Akademie, in der junge Menschen lernen, positive Gefühle künstlich zu erzeugen, hat Gemma nur ein Ziel: Sie muss ihren Vater heilen, bevor dessen Glückspegel noch weiter sinkt und er vor Kummer sterben wird.

Doch hier, inmitten all der dauerlächelnden Menschen, zieht es Gemma ausgerechnet zu Keno. Er ist ein Grenzgänger und will sich dem Glückszwang entziehen. Er liebt die Existenz am Limit, wandelt zwischen Glück und Trauer, Leben und Tod. Entschlossen versucht Gemma, am Glück festzuhalten – doch ihre Überzeugung bröckelt immer weiter. An Kenos Seite lernt Gemma, was wahre Gefühle bedeuten … und was die Menschen aufgeben, wenn sie das Glück über alles stellen.

Autor:in:

Charlotte Richter begann noch während des Studiums zu schreiben und verfasste ihre ersten Texte für den Hörfunk. Seitdem hat sie mehrere Romane für Jugendliche und Erwachsene veröffentlicht. Sie erhielt diverse Literaturstipendien und unter anderem den Förderpreis für Literatur der Stadt Hamburg. Seit vielen Jahren ist sie Mitglied im Hamburger Writers’ Room, einer Arbeits- und Bürogemeinschaft für Schriftsteller, auch wenn sie Hamburg inzwischen verlassen hat. Heute lebt und schreibt sie in Kattendorf in Schleswig-Holstein.


Bei diesem Titel handelt es sich um ein Rezensions- bzw. Presseexemplar. Für die Rezension habe ich keine Bezahlung erhalten. Auf meinem Blog findet ihr stets meine unabhängige und persönliche Meinung zu Titeln.


Weitere Stimmen zum Buch

Kerstin von Booknerds by Kerstin

3 Gedanken zu “Gemma. Sei glücklich oder stirb von Charlotte Richter | Rezension

    1. Ach, perfekt, so soll es sein 🙂 Ich danke dir für deine lieben Worte zu der Art, wie ich die Kritik geäußert habe. Es ist mir immer wichtig, niemanden anzugreifen, sondern bewusst meine Wahrnehmung in den Vordergrund zu stellen. Ich bin sehr froh, dass dies anscheinend gelungen ist und ich bin noch GLÜCKLICHER darüber, dass du dennoch neugierig geworden bist! 😉 🙂
      Liebe Grüße
      Anna

      Gefällt 2 Personen

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