Melmoth von Sarah Perry | Rezension

Düster, unheimlich und erschütternd – so ist „Melmoth“ von Sarah Perry, der Autorin von „Die Schlange von Essex“. Ihr dritter Roman ist meinem Empfinden nach atmosphärisch ebenso dicht wie der Vorgänger, doch er forderte mich um einiges mehr heraus. Denn Sarah Perry lässt die Legende von „Melmoth“ lebendig werden, einer Frau, die dazu verdammt ist, auf ewig den Menschen dort zu erscheinen, wo „Leid, Finsternis und Tod am ärgsten sind“. Folglich sind die Schauplätze der Geschichte eben jene Augenblicke, in der Menschen die größten Greueltaten begehen. In ihrer unendlichen Einsamkeit sehnt sich Melmoth“ nach diesen armen Seelen, die voller Schuld sind. Doch sind wirklich alle diese Menschen hoffnungslos verloren? Oder können sie Vergebung erfahren?

Diese Stunden, diese langen Minuten des kurzen Tages sind wohl die letzten, in denen sie [Helen Franklin] nichts von Melmoth ahnt. Noch ist ein Donner nur ein Donner, und ein Schatten nur ein dunkler Fleck an der Wand. (Seite 13/14)

„Melmoth“ von Sarah Perry zeigt den Menschen mit all seiner Fehlbarkeit. Hass, Eifersucht, Neid, Überheblichkeit, Ignoranz, all jenen Gefühlen, die den Menschen dazu verleiten können, falsche Entscheidungen zu treffen und anderen Menschen Leid zuzufügen. Über dieses Leid zu lesen, war beinahe unerträglich, die Autorin schaut nicht weg, sie schaut umso genauer hin, je grausiger es wird. Denn genau das sind die Momente, in denen Melmoth zugegen ist. Sie zeigt sich in den dunklen Schatten, sie taucht plötzlich am Fenster oder an der Tür auf und sie setzt sich in der Nacht auf die Bettkante.

Helen Franklin, die Protagonistin der Geschichte, hat noch nie von Melmoth gehört, bis ein Freund von ihr das Manuskript des kürzlich verstorbenen Josef Hoffmann liest. Melmoth war eine ständige Begleiterin in Hoffmann’s Leben, denn er hat Menschenleben auf dem Gewissen. Das Manuskript ist seine Beichte. Fortan hat Helen das Gefühl, verfolgt zu werden, in jedem Schatten glaubt sie, Melmoth zu sehen, denn sie hat sich selbst in ihrer Vergangenheit etwas zuschulden kommen lassen.

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Auf einmal war es, als hätte sich alles Schlechte in den Herzen der Menschen, über das ich nie weiter nachgedacht hatte – Eitelkeit, Arglist, Grausamkeit -, in eine feste Substanz verwandelt, und die Substanz sammelte sich dort oben wie ein Fliegenschwarm. (Seite 66)

So hart es auch war, diesen Roman zu lesen, so faszinierend war es auch, in die Vergangenheit einzutauchen. Denn nicht nur Josef Hoffman berichtet von Melmoth, es kommen immer mehr Geschichten ans Licht. So wird man Zeuge der Greueltaten des Nationalsozialismus und der Kirche im 17. Jahrhundert sowie der Auseinandersetzung zwischen Türken und Armeniern Anfang des 20. Jahrhunderts. „Melmoth“ liest sich wie eine Reise durch das gesamte Elend der Menschheit. Ganz klar nicht jedermanns Sache und es mag gut sein zu wissen, worauf man sich bei diesem Buch einlässt.

Und jetzt in diesem Moment, als Thea den Kopf zurücklehnt und draußen vor dem Fenster ein Mann seinen Hund ruft, hört Helen endlich das Klopfen an der Tür; sie öffnet, und Melmoth tritt ein. (Seite 88)

Und doch gibt es einen Hoffnungsschimmer. „Denn sind am Ende nicht diejenigen zur größten Vergebung fähig, denen am meisten vergeben wurde?“ heißt es auf den letzten Seiten von „Melmoth“. Das ist die zweite Seite des Mensch seins: Vergebung. Auch in der größten Not, angesichts der schrecklichsten Taten, kann ein Mensch die Kraft finden, zu vergeben. Und so geht man keineswegs glücklich aus der Geschichte, aber immerhin etwas besänftigt.

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„Melmoth“ hat mich extrem aufgewühlt zurückgelassen. Die Atmosphäre ist durchtränkt von Elend und Leid. Die Figuren sind das Gegenteil von liebenswert, die Erlebnisse der Figuren sind geradezu unerträglich. All dies verfolgt einen auch über die Seiten hinaus. Die Geschichte von Melmoth bleibt im Kopf lebendig. Ein erstklassig geschriebenes, herausforderndes und spezielles Buch, das Leser braucht, die sich darauf einlassen möchten.

Abseits der Geschichte ist zu guter Letzt noch die Gestaltung des Buches hervorzuheben. Die Coverillustration ist wunderschön, zudem spielen die darauf abgebildeten Federn und Vögel eine zentrale Rolle in der Geschichte. Aber auch beim Buchdeckel haben die Macher einen sehr guten Geschmack bewiesen. Ein großes Lob dafür!

Fazit

Über „Melmoth“ von Sarah Perry kann ich nicht sagen, ob es mir gefallen hat oder nicht. Meiner Meinung nach kann an diesem Roman nichts „gefallen“, zu fürchterlich und schmerzhaft ist die Geschichte. Doch die Legende von Melmoth, der Frau, die dazu verdammt ist, das Leid der Menschen zu bezeugen, zog mich in ihren düsteren Bann, die Figuren und ihr Schicksal lassen mich nicht mehr los – ob ich will oder nicht. Nichts ist leicht an dieser Geschichte, alles wiegt schwer, doch genau das ist auch die Stärke des Romans. Meisterlich geschrieben, fordert es den Leser heraus, sich den Dämonen der Figuren zu stellen und diese, ebenso wie Melmoth, zu sehen. Faszinierend und erschütternd zeigt Sarah Perry, wozu Menschen fähig sind – und wie sie dennoch die Kraft finden können, zu vergeben.

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Melmoth *

Melmoth

perry-melmothHelen Franklins Leben nimmt eine jähe Wende, als sie in Prag auf ein seltsames Manuskript stößt. Es handelt von Melmoth – einer mysteriösen Frau in Schwarz, der Legende nach dazu verdammt, auf ewig über die Erde zu wandeln. Helen findet immer neue Hinweise auf Melmoth in geheimnisvollen Briefen und Tagebüchern – und sie fühlt sich gleichzeitig verfolgt. Liegt die Antwort, ob es Melmoth wirklich gibt, in Helens eigener Vergangenheit?


Über Sarah Perry

Sarah Perry wurde 1979 in Essex geboren und lebt heute in Norwich. Ihr Roman Die Schlange von Essex war einer der größten Überraschungserfolge der letzten Jahre in England. Ausgezeichnet als Buch des Jahres 2016 der Buchhandelskette Waterstones, Gewinner des britischen Buchpreises 2017 für den besten Roman sowie für das beste Buch insgesamt. Der Roman war nominiert für den Costa Novel Award, den Dylan Thomas Prize, den Walter Scott, den Baileys und den Wellcome Book Prize.

Verlagsinfos
Verlag (Copyright Cover): Eichborn Verlag
Preis:
 24.00 Euro
Format: Hardcover
ISBN: 978-3-8479-0664-3
Erscheinungstermin: 30. September 2019
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2 Gedanken zu “Melmoth von Sarah Perry | Rezension

  1. Ahoi Anna,

    schöne Rezension! Stimmt schon, bei all´ dem Leid und schlimmen Taten ist es schwer von „gefällt mir“ zu sprechen… ich habe mich ehrlich gesagt auch schwergetan mit dieser düster-depressiven Stimmung und der Langatmigkeit. Ja, der Schreibstil war beeindruckend poesievoll… aber überzeugen konnte mich das alles trotzdem nicht :/

    Liebe Grüße, Ronja von oceanloveR
    zu meiner Rezension

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    1. Liebe Ronja,
      vielen Dank (und sorry für die späte Antwort!) 🙂
      Ich finde es auch schwer von „überzeugen“ zu sprechen. Ich würde es unter „Erlebnis“ verbuchen, das trifft es für mich am ehesten.
      Ich wünsch dir einen schönen Abend!
      Liebe Grüße
      Anna

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