GRM: Brainfuck von Sibylle Berg | Rezension

„GRM: Brainfuck“ von Sibylle Berg ist eine 640 Seiten lange gnadenlose Beschreibung dessen, was in der heutigen Zeit schief läuft und auf welche katastrophalen Zustände wir in naher Zukunft zusteuern könnten. Und das sind einige: Die Regierung von Großbritannien betrachtet Kapitalismus als das Nonplusultra, die Regierenden haben ordentlich Dreck am Stecken und das ganze System ist für die Tonne. Von der Umwelt ganz zu schweigen. Dieser Roman hat mich mehr als herausgefordert und emotional aufgewühlt. Lange bin ich nicht mehr solch einer Brutalität begegnet. Dem Leser kommt eine geballte Ladung aus Wut, Hass, Neid, Hoffnungslosigkeit, Gleichgültigkeit, Überheblichkeit und Traurigkeit entgegen, gekrönt vom bitteren Sarkasmus des Erzählers. Und dennoch finde ich, dass jeder diesen Roman gelesen haben sollte, auch wenn man, wie ich, einen Monat daran liest, auch wenn „GRM: Brainfuck“ einen fix und fertig macht und auslaugt, denn was darin angesprochen wird ist wichtig.

Vielleicht steht die Welt gerade am Beginn ihres Untergangs. Möglicherweise gab es Pläne, größere Teile der Bevölkerung zu vernichten. Man wird sich auch daran gewöhnen. Die Bösartigkeit des Menschen als Status quo ist immer etwas, an das man sich gewöhnt. (Seite 338)
Die Dummheit ist eine verlässliche Konstante der Menschheitsgeschichte. (Seite 478)

Also, ich bin „gebrainfucked“, könnte man sagen. Mein Kopf schwirrt, meine Gedanken sind schwer. Sibylle Berg feuert eine nicht enden wollende Kanonade des Schreckens ab. Wir befinden uns in Rochdale, einer tatsächlich existierenden Stadt im Norden Englands. Der Brexit ist Vergangenheit und das Land versucht sich nun neu zu erfinden. Doch „GRM: Brainfuck“ ist keine Dystopie. Die Geschichte spielt in der nahen Zukunft, und vieles von dem, was im Roman angesprochen wird, passiert genau so bereits heute. Berg hat das Ganze einfach nur noch ein wenig weitergedacht, noch ein wenig mehr ausgereizt, noch ein wenig mehr katastrophale Folgen für Mensch und Umwelt herausgekitzelt. Abwegig ist die Handlung von „GRM“ also ganz sicher nicht. Und das ist das erschreckende daran.

Die Abkürzung „GRM“ steht übrigens für „Grime“, die größte musikalische Revolution seit dem Punk, mit der sich Jugendliche gegen die teils erbärmlichen Lebensbedingungen auflehnen. Sie rebellieren mit ihren Liedern und schreien ihre Wut heraus. „Schmutz“, heißt es auf Deutsch. Und die Kinder und Jugendlichen in Rochdale sind tatsächlich der Schmutz der Gesellschaft. Sie leben in absoluter Armut, die Hoffnungslosigkeit ist ihr täglicher Begleiter. Sie haben allen Grund zu rebellieren. Die Verhältnisse, in denen sie leben, sind bitter. Wirklich bitter. Selbst der Mittelschicht geht es nicht bedeutend besser, im Grunde gibt es sie kaum noch, es gibt nur noch die Reichen, die, die es zu etwas gebracht haben – mit viel Glück. Denn Arbeit ist schwer zu bekommen, stattdessen ist die Künstliche Intelligenz auf dem Vormarsch, zuverlässig und unkompliziert.

Wozu Gefühle entwickeln, die unweigerlich in Trauer enden würden, wenn keiner da war, der Anteilnahme entwickelt. Keiner, der einen tröstete. Nicht einmal weinen war da sinnvoll. (Seite 68)

Die Eltern von Don, Hanna, Peter und Karen gehören zu jenen Menschen, die aus den verschiedensten Gründen in Armut leben. Manche sind als Eltern schlicht Totalversager, andere sind zufällige Verlierer eines grausamen Systems. Schlussendlich versinken sie alle gleichermaßen im Sumpf von Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch, Tablettenabhängigkeit, Krankheit und Depression. Das bedeutet für die Kinder: Sexueller Missbrauch und Gewalt stehen an der Tagesordnung. Bis sie irgendwann aufgrund diverser Umstände auf sich allein gestellt sind und beschließen, der Stadt den Rücken zu kehren und nach London zu gehen. Dort muss es doch besser sein! Spoiler: Ist es nicht.

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Sie fliehen aus dem einen Elend, nur um in einem anderen Elend anzukommen. Denn der Staat hat inzwischen die volle Kontrolle über die Bevölkerung und weiß alles über jeden. Schließlich muss ja die Eskalation von Kriminalität und Gewaltverbrechen verhindert werden. Gutes Benehmen wird belohnt, wer sich daneben benimmt, bekommt erst weniger Geld, verliert dann seine Wohnung, so dass er sich einen Sofaplatz in einer fremden Wohnung mieten muss – für die Nacht wohlgemerkt, alles andere ist unbezahlbar. Tagsüber streifen diese Menschen umher und sind sich ihrer absoluten Minderwertig- und Bedeutungslosigkeit bewusst. So hatten sich die vier ihr neues Leben gewiss nicht vorgestellt. Doch immerhin können sie in London Einfluss auf ihr Elend nehmen. Sie können versuchen, zu rebellieren. Sie schließen sich einer Hackergruppe an, die versucht, das System zu erschüttern.

In ihrem Roman stellt Sibylle Berg alles an den Pranger: Sie thematisiert die Risiken der zunehmenden Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz, die Verdummung des Menschen durch Endgeräte, Abtreibung, Fake News, die Klimakrise, alte Männer und ihre Machtgier und die Privatisierung von Polizei und anderen staatlichen Behörden. Ein ganz schön großer Batzen.

Ein paar Hundert Männer, […] haben die neue Weltordnung errichtet. Die Neuerfindung der Welt durch – Männer. Das liegt ihnen einfach. Ein Scheißsystem durch das nächste Scheißsystem auszutauschen. Immer in der Limitierung ihres Verstandes agierend. (Seite 413)

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Und als wäre das nicht schon genug, sucht man Emotionen wie Liebe und Mitgefühl vergeblich. Stattdessen wird vergewaltigt, geprügelt, verletzt. Alle sind irgendwie krank im Kopf. Immer auf ihren Vorteil bedacht, getrieben von Unzufriedenheit und Gier. Und dennoch sind sie im Grunde todunglücklich, denn trotz aller technischer und politischer Errungenschaften fehlt etwas. Besonders anschaulich wird dies in den jeweiligen Kurzvorstellungen der Figuren. Jeder wird durchleuchtet, der IQ ist bekannt, die Ethnie, Hobbys, Kreditwürdigkeit und das Aggressionspotenzial. Was man angesichts dieser Informationen aber besonders spürt, ist die allumfassende Leere. Was macht einen Menschen überhaupt noch aus? Welchen Wert hat man als Mensch noch, wenn kein Job mehr da ist, die Ehe scheitert, keine Wende in Sicht ist?

Besonders ist auch der Schreibstil von Sibylle Berg, knapp und präzise, eiskalt und beißend zynisch. Jeder Satz bringt etwas im Leser zum schwingen, von Abscheu bis hin zu Wut. Positives sucht man leider vergebens, denn am Leben in Rochdale und in London ist nichts positiv. „GRM: Brainfuck“ ist ein düsterer Ausblick auf das, was sein könnte.

Vielleicht ist die Erde der Gott, den alle so ersehnen, und sie würde den Menschen Frieden schenken, eine Pause von all dem Sich-Entwickeln und Wachsen und Versauen, was möglich ist. Sie würde einfach den Meeresspiegel um zwanzig Zentimeter anheben, dazu ein paar Vulkane ausbrechen lassen und sich in einer nassen Eiszeit von den Volltrotteln befreien. (Seite 254)

Fazit

„GRM: Brainfuck“ von Sibylle Berg reißt einem das Herz heraus und beraubt einem jeglicher positiver Gefühle, bis man vollständig ausgelaugt zurückbleibt. So erging es zumindest mir beim Lesen dieses politisch sowie gesellschaftlich brisanten Romans, in dem eiskalt, brutal und zynisch auf den Punkt gebracht wird, was in unserer heutigen Zeit bereits schief läuft und was in naher Zukunft noch mehr in eine Schieflage geraten kann. Wer auf der Suche nach einem mehr als herausfordernden Roman ist, der Themen wie Digitalisierung, Armut, das Versagen des Systems, Macht- und Profitgier und die Klimakrise anspricht, der ist hier genau richtig.

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GRM: Brainfuck *

GRM: Brainfuck

berg-grm-brainfuckDie Brave New World findet in wenigen Jahren statt. Vielleicht hat sie auch schon begonnen. Jeden Tag wird ein anderes westliches Land autokratisch. Algorithmen, die den Menschen ersetzen, liegen als Drohung in der Luft. Großbritannien, wo der Kapitalismus einst erfunden wurde, hat ihn inzwischen perfektioniert. Aber vier Kinder spielen da nicht mit – sondern gegen die Regeln. Und das mit aller Konsequenz. Willkommen in der Welt von GRM.

Sibylle Bergs neuer Roman beginnt in Rochdale, UK, wo der Neoliberalismus besonders gründliche Arbeit geleistet hat. Die Helden: vier Kinder, die nichts anderes kennen als die Realität des gescheiterten Staates. Ihr Essen kommt von privaten Hilfswerken, ihre Eltern haben längst aufgegeben. Die Hoffnung, in die sie sich flüchten, ist Grime, kurz GRM. Grime ist die größte musikalische Revolution seit dem Punk. Grime bringt jeden Tag neue YouTube-Stars hervor, Grime liefert immer neue Role-Models.

Als die vier begreifen, dass es zu Hause keine Hoffnung für sie gibt, brechen sie nach London auf. Hier scheint sich das Versprechen der Zukunft eingelöst zu haben. Jeder, der sich einen Registrierungschip einpflanzen lässt, erhält ein wunderbares Grundeinkommen. Die Bevölkerung lebt in einer perfekten Überwachungsdiktatur. Auf der Straße bleibt nur der asoziale, vogelfreie Abschaum zurück. Die vier Kinder aber – die fast keine Kinder mehr sind –, versuchen außerhalb des Systems zu überleben. Sie starten ihre eigene Art der Revolution.


Über Sibylle Berg

Sibylle Berg lebt in Zürich. Ihr Werk umfasst 25 Theaterstücke, 14 Romane und wurde in 34 Sprachen übersetzt. Berg fungierte als Herausgeberin von drei Büchern und verfasst Hörspiele und Essays. Sie erhielt diverse Preise und Auszeichnungen, u.a. den Wolfgang-Koeppen-Preis (2008), den Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis (2016) und den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (2019).

Verlagsinfos zum Buch
Verlag (Copyright Cover): Kiepenheuer & Witsch Verlag
Preis:
 25.00 Euro
Format: Pappband
ISBN: 978-3-462-05143-8
Erscheinungstermin: 11. April 2019
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Weitere Stimmen zum Buch


„Die Verhältnisse, die GRM entwirft, [sind] zwar eine ins Radikale gedachte Romanidee. Aber aus der Luft gegriffen sind sie nicht.“ ZEIT online

„Nach der Lektüre brummt der Kopf, als habe man sich stundenlang auf Facebook herumgetrieben oder zehn Folgen einer spannenden, stumpf-gewalttätigen Thrillerserie angeschaut.“ Der Tagesspiegel

„Man verstünde den Text völlig falsch, hielte man ihn für eine Dystopie. Denn was er erzählt, ist wahre Wirklichkeit. Das Reale.“ WELT

„Es ist von jeher im Staatsinteresse, Kontrolle über den Menschen zu haben.“ Sibylle Berg im Interview auf arte.tv

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