Die Schlange von Essex von Sarah Perry | Rezension

Atmosphärischer Blick auf London und Essex im Jahr 1893. Auf Medizin und Kirche, gesellschaftliche Konventionen und die Wirrungen der Liebe.

„Die Schlange von Essex“ von Sarah Perry ist auf die vielfältigste Weise ein faszinierendes Buch, das den britischen Buchpreis 2017 für den besten Roman vollkommen zu Recht gewonnen hat. Die Autorin spielt darin die unterschiedlichsten Themen gegeneinander aus: Medizin und Wissenschaft gegen Religion und den Glauben, Armut gegen Wohlstand, das Leben in der Stadt gegen das Leben auf dem Land, Wahn gegen Realität, Liebe gegen Vernunft. Alles zusammen ergibt ein äußerst eingehendes und nuanciertes Bild von London und Essex im Jahre 1893, mitten im sogenannten Viktorianischen Zeitalter. Mehr Details zu diesem besonderen Werk erfahrt ihr in meiner Rezension.

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Dass solch eine Vielzahl an Themen miteinander in Einklang gebracht werden kann, liegt vor allem an den Charakteren, die jeder einen oder mehrere der Standpunkte, Werte oder Weltanschauungen vertreten. Durch die ständigen Reibungspunkte der Charaktere entfaltet sich so vor dem Leser ein großes Spektrum an Informationen zur damaligen Zeit. Nichtsdestotrotz gehen die Charaktere immer wieder aufeinander zu, versuchen einander zu verstehen, einander zu helfen.

Doch worum geht es eigentlich in „Die Schlange von Essex“? Nun, hauptsächlich verfolgen wir Cora Seaborne auf ihrem Weg von einer wenig selbstbestimmten, verheirateten Londonerin hin zu einer im Denken und Handeln freien Witwe. Sie schließt Freundschaft mit dem Dorfpfarrer William Ransome und seiner Familie und fortan diskutieren sie über Wissenschaft, Darwin, Religion und die Kraft des Glaubens. Sie sind selten einer Meinung, können aber eine gegenseitige Anziehungskraft nicht leugnen. Zusätzlich versetzt die ominöse Schlange von Essex die Bewohner des Ortes in Angst und Schrecken. Unglücksfälle häufen sich, Menschen verschwinden und Tiere sterben. Während Cora an ein lebendes Fossil glaubt, das wissenschaftlich erforscht werden sollte, glaubt Will gar nicht an die Erscheinung, muss sich aber gegen den zunehmenden Aberglauben der Dorfgemeinschaft einsetzen und versuchen, seine Gemeinde wieder auf den rechten Weg zu bringen.

Cora schüttelte den Kopf. „Ich habe immer gesagt, es gäbe keine Mysterien, nur unentdecktes Wissen; aber in letzter Zeit denke ich oft, dass nicht einmal die Wissenschaft die Welt entzaubern kann.“ (Seite 261)

Als wäre das nicht schon genug, kommt die Liebe ins Spiel. Unerwiderte Liebe, hoffnungslose Liebe, verbotene Liebe und geheime Liebe. In dieser Hinsicht steht Sarah Perry Jane Austen in kaum etwas nach, finde ich. Sie schreibt ebenso feinfühlig und dabei treffend von den Irrungen und Wirrungen des Herzens. Dabei gefiel mir besonders die sanfte Behäbigkeit, mit der die Annäherung vonstatten geht, da sich der Austausch zwischen Will und Cora beispielsweise häufig auf das Schreiben von Briefen beschränkt. Es steckt eine Ruhe in den Zeilen und in der gesamten Entwicklung der Geschichte, die einfach nur gut tut. Das bedeutet aber nicht, dass die Geschichte langatmig ist. Im Gegenteil, es gab so vieles „unterwegs“ zu entdecken, während sich die Spannung langsam und unterschwellig aufbaute – immer drückender wird es, wie vor einem Gewitter.

William Ransome und Cora Seaborne standen nebeneinander, jeder Etikette und Konventionen und sogar der Sprache beraubt, und sie schob ihre starke Hand in seine: Kinder der Erde, ins Staunen versunken. (Seite 204)

Für diese zunehmend bedrohliche Stimmung hat Sarah Perry sehr passende Bilder gefunden. Momentaufnahmen gleich stehen beispielsweise Veränderungen in Natur und Wetter für die Aufruhr der Menschen. Es wird Winter, die Kälte beißt und die Dunkelheit umfängt alles. Dadurch wird man sehr in das Grundgefühl des Buches mit hineingezogen.

Besonders gelingt der Autorin dies außerdem durch einzelne, den Kapiteln vorangestellten Einschüben, in denen sie in der Gegenwart statt in der Vergangenheit erzählt. In kurzen Sätzen beschreibt sie darin, was die Charaktere tun. Das sind jedoch meistenteils keine großen Taten, sondern eher die kleinen, unwichtigen Handlungen, die der Alltag mit sich bringt. Durch die veränderte Zeitform nimmt man als Leser jedoch viel schärfer und unmittelbarer wahr, was die Menschen beschäftigt und bewegt. Gleichzeitig wirken der Wechsel ins Präsens und der ungewohnte Schreibstils seltsam distanzierend und befremdlich – eine Mischung, die mir sehr gefiel.

Fazit

„Die Schlange von Essex“ von Sarah Perry ist ein sehr vielseitiges Buch, das einen Blick in das Viktorianische Zeitalter erlaubt und gleichzeitig Themen wie Liebe, Glaube und Wissenschaft anspricht. Wer eine reine Liebesgeschichte erwartet, sollte eventuell lieber zu einem anderen Buch greifen, denn es wird eher weniger offenkundig darüber gesprochen. „Die Schlange von Essex“ erinnert in dieser Hinsicht an Werke von Jane Austen. Doch letztendlich sollte man bei „Die Schlange von Essex“ auch nicht auf einzelne Aspekte Wert legen, man muss sie in ihrer Gesamtheit erleben und sich darauf einlassen. Eine absolute Empfehlung für Leser, die Geduld mitbringen und sich gerne durch eine faszinierende Zeit treiben lassen möchten.

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Die Schlange von Essex

London im Jahr 1893. Nach dem Tod ihres Mannes verlässt Cora Seaborne die Hauptstadt und reist gemeinsam mit ihrem Sohn Francis in den Küstenort Aldwinter. Als Naturwissenschaftlerin und Anhängerin der provokanten Thesen Charles Darwins gerät sie dort mit dem Pfarrer William Ransome aneinander. Beide sind in rein gar nichts einer Meinung, beide fühlen sich unaufhaltsam zum anderen hingezogen.

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Verlag (Copyright): Bastei Lübbe
Preis:
 24.00 Euro
Format: Hardcover
ISBN: 978-3-8479-0030-6
Erschienen: 29. September 2017
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Über Sarah Perry


Sarah Perry wurde 1979 in Essex geboren und lebt heute in Norwich. Ihr Roman Die Schlange von Essex war einer der größten Überraschungserfolge der letzten Jahre in England. Ausgezeichnet als Buch des Jahres 2016 der Buchhandelskette Waterstones, Gewinner des britischen Buchpreises 2017 für den besten Roman sowie für das beste Buch insgesamt. Der Roman war nominiert für den Costa Novel Award, den Dylan Thomas Prize, den Walter Scott, den Baileys und den Wellcome Book Prize.

Stimmen anderer Blogger


15 Gedanken zu “Die Schlange von Essex von Sarah Perry | Rezension

  1. Liebe Anna,

    eine wundervolle Rezension der ich einfach nur nickend zustimmen kann. Mich hat die Art und Weise wie Cora Seaborne den Roman spinnt auch etwas an Jane Austen erinnert. Hach einfach wundervoll! Bleibt zu hoffen, dass wir noch ganz viel Lesestoff von der Autoroin geboten bekommen.

    Liebe Grüße
    Bella

    P.S.: Herzlichen Dank fürs verlinken. Ich war so frei und hab deine Rezension auch noch bei mir mit aufgenommen.

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    1. Liebe Bella,

      ich danke dir, mir ging es bei deiner Rezension auch ganz genauso 🙂 Hoffentlich wird sie noch viele, viele neue Bücher in diesem Stil schreiben, Jane Austen’s Werke habe ich schließlich alle schon mehrfach gelesen 😉

      Danke dir ebenfalls für verlinken!

      Alles Liebe,
      Anna

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  2. Hey, ich habe das Buch auch vor kurzem gelesen und fand es auch ganz große Klasse, deine Rezension wird dem Buch mehr als gerecht und ist super geschrieben 😉
    Witzigerweise kam mir beim Lesen aber auch der Vergleich zu Jane Austen 😀
    Alles Liebe,
    Sara

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    1. Liebe Sarah,

      den Vergleich mit Jane Austen bringen tatsächlich ein paar, es scheint also tatsächlich eine starke Ähnlichkeit zu geben ☺️ Wie schön, dass es dir auch gefallen hat! Ich mochte vor allem, dass die Geschichte ganz ohne große Spannung und ohne Kitsch auskommt. Herrlich 😄

      Liebe Grüße,
      Anna

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      1. Hi Anna,
        okay dann bin ich da nicht die Einzige^^
        Ohja das fand ich auch, die Art und Weise wie das Buch geschrieben ist, finde ich auch einfach sehr angenehm. Und dass trotz des Mysteriums die Balance zwischen Religion und Wissenschaft gehalten wird 😊
        Alles Liebe,
        Sara

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