flüchtig von Hubert Achleitner | Rezension

Würde ich ein Buch schreiben wollen, würde ich mir wünschen, es auf diese Art und Weise zu schreiben. „flüchtig“ von Hubert Achleitner ist für mich eine literarische Kostbarkeit, die mich auf eine intensive, emotionale und beinahe schon philosophische Reise von Österreich bis nach Griechenland mitnahm. So reich an Gefühl, Witz und Weisheit! So kann nur jemand schreiben, der viel erlebt hat, könnte man meinen. Und es stimmt. Hubert Achleitner, als Musiker unter dem Namen Hubert von Goisern bekannt, ist in seinem Leben viel herumgekommen. Mit Anfang zwanzig wanderte er nach Südafrika aus, danach zog er nach Kanada und lebte anschließend auf den Philippinen. Mitte der Neunziger Jahre war er mit seiner Band „Alpinkatzen“ in aller Munde, er schauspielerte und komponierte Filmmusik. Bis heute ist er als Musiker aktiv und in diesem Sommer erscheint ein neues Album. Angesichts dieser Biografie ist es nicht verwunderlich, dass „flüchtig“ ein Werk voller feiner Beobachtungen und Erkenntnisse ist und zeigt, dass es manchmal die flüchtigen Bekanntschaften und Momente sind, die uns am meisten prägen und leiten. Und es zeigt, dass das Leben endlich ist.

Alles ist flüchtig, aber nicht alles ist gleich flüchtig. Jedes Ereignis hat seine eigene Halbwertszeit. Ich will dir jetzt meine Geschichte erzählen, bevor sie sich zu sehr verflüchtigt.

flüchtig, S. 260

Innerhalb dieser begrenzten Zeit, die uns zur Verfügung steht, begegnen sich Menschen oft auf verwunderlichen Wegen – man mag beinahe schon an Schicksal glauben. Besagtes Schicksal meint es nach dreißig Jahren Ehe erst einmal nicht besonders gut mit Herwig und Maria. Was einst zwischen ihnen war und was sie miteinander verband, hat sich verflüchtigt. Maria distanziert sich immer mehr von ihrem Mann, sie ist unglücklich, weder ihre Arbeit noch ihre Ehe erfüllen sie. Herwig wiederum beginnt eine Affäre mit einer anderen Frau und so leben beide einträchtig nebeneinander her, ohne die Kraft, sich in der Tiefe mit ihren Schwierigkeiten zu befassen. Es bedarf eines Ausbruchs und dazu kommt es, als Maria von der Affäre erfährt. Von jetzt auf gleich und ohne ein Wort der Erklärung verschwindet sie aus Herwigs Leben, sie bricht auf, immer Richtung Süden, letztendlich bis nach Griechenland.

„Maria, was ist bloß aus uns geworden?“ Wig leckte sich die Erinnerungen von seinen Lippen. Aber das Salz, das er schmeckte, kam nicht aus der Vergangenheit, sondern von den Tränen der Gegenwart.

flüchtig, S. 238

Mich haben zweierlei Dinge an diesem Roman besonders begeistert. Zum einen der Schreibstil, diese dadurch erzeugten Stimmungen! So intensiv und reich an Gefühl, Geschmack und Geruch. „Die Wärme des pechschwarzen, bittersüßen Getränks breitete sich in ihren Körpern aus. Die dickwandigen Tassen in Händen lauschten sie zurückgelehnt der tief unter ihnen liegenden Stadt.“ (S. 135) Eine Beschreibung eines alltäglichen Augenblicks, behäbig, vertraut und gemütlich, und dennoch transportieren diese Sätze so unglaublich viel Atmosphäre.

Zum anderen zeigt „flüchtig“ eine enorme inhaltliche Bandbreite. Nicht nur Herwig und Maria stehen im Mittelpunkt, es kommen viele andere Figuren hinzu und alle blicken auf ihr Leben zurück, bei allen lässt Hubert Achleitner den Leser teilhaben an Erinnerungen und besonderen Erlebnissen. So begleiten wir Maria gemeinsam mit ihrer Bekannten Lisa nach Griechenland und lernen Ioannis kennen, der wiederum von seinem Freund Aegidius erzählt. Hinzu kommen Ioannis Großvater Mikis und seine Lebensgeschichte, die unglaublich faszinierend ist! Gleiches gilt für Herwig und seine Freundin Nora, die wiederum mit Oskar zusammen ist. Es entsteht ein Wirbel an Lebenswegen, die sich ab und an auf überraschende Weise begegnen und kreuzen.

Was verzwickt klingt, liest sich im Gegenteil unglaublich entspannt und es entstehen keinerlei Längen. Man mag sich ausruhen in diesem Roman, sich treiben lassen mit den Figuren, und ganz nebenbei vielleicht auch sich selbst und das eigene Leben ein wenig reflektieren.

„flüchtig“ von Hubert Achleitner ist einer der schönsten und besten Romane, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Äußerst melodiös beschreibt Achleitner, wohin einen das Schicksal führen kann, wenn man sich treiben lässt und wie flüchtig jeder einzelne Augenblick ist. Dabei bleibt er immer ganz nah bei seinen Figuren, deren Schicksal auf faszinierende Weise miteinander verwoben ist.


Unabhängig von dieser Rezension möchte ich ein Detail ansprechen, das wohlgemerkt nicht die Geschichte an sich betrifft. Mir persönlich ist es dennoch wichtig, das an dieser Stelle nicht unerwähnt zu lassen. Es geht um die Verwendung eines Begriffs. der anscheinend im österreichischen Dialekt seine Wurzeln hat: „Topfenneger“ (Seite 239). So bezeichnete Herwigs Vater früher Menschen, „die nicht in die Sonne gegangen sind“, also sehr hellhäutige Menschen. Ich möchte keinesfalls schlecht über den Autor sprechen oder sein sehr gelungenes Werk schmälern, doch ich hätte in der heutigen Zeit mehr Sensibilität von einem Autor erwartet. Es mag sein, dass dieser Ausdruck früher (oder auch heute noch) unreflektiert verwendet wurde (wird), es sollte meiner Meinung nach besonders in Romanen jedoch absolut keine Notwendigkeit bestehen, diesen zu verwenden. Es sollte selbstverständlich sein, sich davon bewusst zu distanzieren.


flüchtig

Verlag (Copyright Cover): Zsolnay Verlag
Preis: 23.00 Euro
Format: Hardcover
ISBN: 978-3-552-05972-6
Erscheinungstermin: 25. Mai 2020

Klappentext: Maria ist verschwunden. Seit Monaten hat Herwig, mit dem sie seit fast dreißig Jahren verheiratet ist, nichts von ihr gehört. Dass sie ihren Job gekündigt und seinen Volvo mitgenommen hat, lässt zumindest hoffen, dass sie noch am Leben ist. Doch was ist passiert, mit ihrer Ehe, ihrer Liebe, ihrem gemeinsamen Leben? Hubert Achleitner schickt seine Protagonisten auf eine abenteuerliche Reise, die sie von den österreichischen Bergen quer durch Europa bis nach Griechenland führt. Und die für beide doch in erster Linie eine hochemotionale Reise in ihr Inneres bedeutet. Ein weiser und sehr musikalischer Roman über Liebe und Sehnsucht, das Schicksal und das flüchtige Glück…

Autor*in: Hubert Achleitner, bekannt als Hubert von Goisern, wurde 1952 in Bad Goisern geboren. Er gilt als prononciertester Vertreter der „Neuen Volksmusik“ und Erfinder des sogenannten „Alpenrock“. Seine Interpretation alpenländischer Musik ist stilübergreifend und inspiriert von anderen Kulturen. Die „Linz Europa Tour 2007-2009“ gilt bis heute als eines der größten grenzübergreifenden Musikprojekte unserer Zeit. „flüchtig“ ist sein erster Roman.


Weitere Stimmen zum Buch

Wolfgang Brandner auf Bücherkaffee

Bei diesem Titel handelt es sich um ein Rezensions- bzw. Presseexemplar. Für die Rezension habe ich keine Bezahlung erhalten. Auf meinem Blog findet ihr stets meine unabhängige und persönliche Meinung zu Titeln.

4 Gedanken zu “flüchtig von Hubert Achleitner | Rezension

  1. Ich kannte den Jetzt-Autor tatsächlich nur unter seinem Musiker-Alter-Ego Hubert von Goisern und habe mir gleich noch mal sein Lied „Brenna tuats guat“ (mit hochdeutscher Übersetzung daneben) angehört. Ich fand die Aufmachung des Liedes damals schon interessant; diese Verbindung von eingängiger Melodie mit traditioneller Mundart und Kapitalismuskritik – eine ziemlich wilde Mischung, die jetzt, nach dem was du über den Werdegang von Hubert Achleitner schreibst, auf einmal mehr Sinn ergibt. Von seinem Debütroman habe ich gerade bei dir zum ersten Mal gelesen; du klingst sehr begeistert, deshalb wandert das Buch gleich mal auf meine Merkliste. Danke für den Tipp!

    Viele Grüße
    Jana

    Gefällt 1 Person

    1. Liebe Jana,
      entschuldige die späte Antwort, ich hatte im Urlaub auch eine Blog-Pause 🙂
      Wie spannend, dass du den Autor als Musiker kanntest! Ich habe ihn erst als Autor kennengelernt und mir danach seine Lieder angehört. Nicht meins, aber ich verstehe, dass die Verbindung der verschiedenen Stilelemente toll ist 🙂
      Ich freue mich, dass das Buch auf deine Merkliste gerutscht ist! Es ist wirklich großartig 🙂
      Liebe Grüße
      Anna

      Gefällt 1 Person

      1. Liebe Anna,

        ich hoffe, du hattest einen schönen Urlaub!
        Ich kannte (und kenne) nur dies eine Lied von Hubert von Goisern und habe mich sonst nicht weiter durchgehört, weil die Art von Musik eigentlich so gar nicht meinen Geschmack trifft. Aber dieses eine Lied fand ich dann sehr eingängig und war überrascht, dass der Text ziemlich kritisch war und nicht – wie bei einigen anderen Mundart- oder Schlager-Sängern – einfach heile Welt (mit teils extrem konservativen Tendenzen) abbildete. Dieser Moment-Eindruck prägt jetzt auch meine Erwartung an Hubert Achleitner als Autor. Merkwürdig, welche Sprünge das Denken manchmal macht.

        Viele Grüße
        Jana

        Gefällt 1 Person

      2. Der Urlaub war sehr, sehr schön 🙂
        Finde deine Gedankensprünge spannend! Ich glaube, dass er sowohl als Autor als auch als Musiker einen äußerst reflektierten und feinen Blick auf die Welt hat. Das kommt zumindest im Buch durch. Wenn ich nun höre, dass seine Texte durchaus kritisch sind und nicht „heile Welt“, dann ergibt das ein rundes Gesamtbild 🙂
        Liebe Grüße
        Anna

        Gefällt 1 Person

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